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Vorträge vom Treffen in Wien

Materialkunde von Gerhard Meisinger

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Die Entwicklung der Spitze ( verkürzter Vortrag von Marianne Stang)

 

Im 16. Jh. erwacht durch das Erstarken der Städte und des Bürgertums ein großes Bedürfnis nach reich geschmückter Kleidung und reich ornamentierten Textilien für das Haus. Seit dem 15. Jh. trägt man aus hygienischen Gründen unter der Kleidung leicht waschbare Leinenhemden, die an Hals und Handgelenken mit Bändern zusammengehalten werden. Man entwickelte daher Schmuckkanten aus dem gleichen Leinenmaterial: nämlich Spitzen, die waschbar waren, ohne auszufärben oder zu verderben, und die auf der dunkleren Oberbekleidung Effekte von besonders kostbar zarter Raffinesse bewirkten. Spitzen waren meist weiß, gelegentlich schwarz. Farbige Spitzen entstanden im Zusammenspiel von Metallgarnen und farbigen Seidenfäden.

 

         

Führend für diese Neuheiten im Bereich der Kleidung war Italien, speziell Venedig als Modemetropole Europas.

In einem Modelbuch, das 1561 in Zürich herausgekommen war, heißt es, dass diese Spitzen „im Jahre 1536 erstmals durch die Kaufleute aus Venedig und dem sonstigen Italien“ [in andere Länder Europas] „eingeführt worden“ seien... „Die Spitzen würden jetzt (1561) an vielen Orten gearbeitet, denn den Frauen erwüchse daraus ein guter Verdienst. Zuerst wären diese Spitzen nur auf Hemden angebracht worden, jetzt aber würden sie für Kragen, Ärmel, Hauben, Gürtel, Lätze, Taschentücher, Tisch- und Bettwäsche u.a. verwendet.


Als man noch die Kleidung mit Stickerei in Gold und Seide versehen hätte, habe auch das Waschen, da es mit Seife hätte geschehen müssen, viel Geld gekostet. Auch das wäre jetzt einfacher, da die Spitzen aus Leinenfaden gemacht wären, die vertrügen, mit Lauge gereinigt zu werden.“ (Lotz, Bibliographie der Modelbücher, Stuttgart. 1963. S. 74-75.)


Aus der anfangs kleinen Spitzenkante wurden in den nächsten beiden Jahrhunderten bewundernswerte Werke der Spitzenkunst.


Der im 17. Jh. allgemein hoch entwickelte Kunstsinn der Niederländer, der sich deutlich in der Malerei spiegelt, zeigt sich auch auf textilem Gebiet. Speziell die flämischen Niederlande entwickelten mit der „flämischen Zackenspitze“ in der 1. Hälfte des Jh. eine eigenständige Klöppelkunst.


In Städten wie Antwerpen, Brügge, Brüssel, Gent und Ypern u.a. war das Spitzenklöppeln die Haupterwerbsquelle, besonders für Frauen. Die flämischen Klöppelspitzen übertreffen die bisherigen Klöppel- und Nadelspitzen weit an Zartheit und Weichheit. Sie umgeben die Décolletés und umspielen Ellbogen und Unterarm als Engageantes.

 

         Die Nadelspitze ist eine Schöpfung Venedigs. Sie hatte sich aus der Stickerei entwickelt, mit der man Säume befestigt und schmückt, speziell aus dem Hohlsaum, der Durchbruch- und Doppeldurchbruchstickerei. Die Nadelspitze stand Mitte des 17. Jahrhunderts in voller Blüte und war als die große Repräsentationsspitze noch über ein Jahrhundert später Teil kirchlicher und weltlicher Amtstrachten. Ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht die Nadelspitze im Barock. Als „Venise“ oder differenzierter als „Point gros oder Point plat de Venise“ hat die Stadt dieser Spitze ihren Namen gegeben.


Es ist die große, repräsentative Spitze.

Der vernichtende Schlag gegen Venedig als Spitzen- wie Modestadt kam von Frankreich, das in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts die kulturelle Führung in Europa übernahm und ein eigenes leistungsstarkes Textilgewerbe aufbaute.

Im absolutistisch-merkantilistischem Sinne wurden Manufakturen, gewerbliche Großbetriebe, unter staatlicher Schirmherrschaft installiert.

So entstand zuerst - gegen den Widerstand der Bevölkerung - in und um Alençon und Argentan eine Spitzen-„Industrie“ mit einer Heerschar von Arbeiterinnen, die an einen „Verleger“ gebunden wurden, der Material und Musterentwurf vorlegte und die fertige Arbeit vertrieb.


Spitzen trugen also nicht nur kapriziöse Damen von Adel oder wohlsituierte Bürgersfrauen, sondern von der 2. Hälfte des 16. Jh. bis zur französischen Revolution waren sie auch ein wichtiges Accessoire der Männermode.

        

Im 17. Jh. trugen Herren wie Damen Spitzen an Kragen und Ärmeln von weißen Hemden, meist auf dunklem Stoff oder gar kombiniert mit der Rüstung. Vornehme Herren schmückten sich mit um den Leib geschlungenen Schärpen. Sogar den Rand ihrer hohen Stiefel zierten Spitzen.


         In der Damenmode lösten die kleinen Hauben kunstvolle Spitzengebilde ab, wie die Fontange - ein aufrechtstehendes Spitzengefältel - oder die breiten Spitzenbänder, Barben genannt, die als Besatz von Hauben, als Haar- und Halsschmuck Verwendung fanden.


        

Die Barben blieben auch weiterhin Bestandteil der Hauben, an deren Seiten sie dekorativ herunterhingen. Décolleté und Ärmel wurden im Rokoko mit Kaskaden von Spitzen versehen, die weiten Röcke mit Volants besetzt.


         Die echten Spitzen, also Nadel- und Klöppelspitzen, waren in der Geschichte der Spitze die großen stilbildenden Spitzen. In ihren Hochformen kommt ihnen künstlerischer Rang zu. Ganz eigen ausgeprägte Stilmerkmale sind zu erkennen, die z.B. auch in der Bauornamentik auszumachen sind, daher spricht man von Renaissance-, Barock, Rokoko-Spitzen wie von Spitzen des Klassizismus, des Biedermeier, des Historismus und Jugendstils, wie des Art Déco oder auch wieder von moderner Spitzenkunst heute.

          

Weißstickerei kam als feine Batiststickerei in der 2. Hälfte des Jahrhunderts in Mode. Sie entsprach der zeitgenössischen Nadel- und Klöppelspitze. Die schönsten Arbeiten wurden in und um Dresden hergestellt und hatten als Point de Saxe (oder Point de Dresde) internationale Anerkennung.


         Der wachsende Bedarf an Spitzen ließ seit dem 16. Jahrhundert einen gewinnbringenden neuen Wirtschaftszweig entstehen, der im 17. und 18. Jahrhundert seine Blüte erlebte. Hauptzentren waren Venedig und Flandern. Die Spitze selbst erreichte ihre höchste Vollendung in künstlerischer wie technischer Hinsicht. Führend waren die flämischen Niederlande mit Brüssel, das für ganz Europa die großen Repräsentationsspitzen lieferte.

Artikel aus Spitze wurden auch in ausgeprägter Arbeitsteilung angefertigt. Die Muster der Klöppelspitze entwarfen meist Männer. Ausgeführt wurden sie größtenteils in Heimarbeit von Frauen und Mädchen. Auf dem Klöppelkissen können nur Partien in begrenzter Breite gearbeitet werden. Diese wurden anschließend von spezialisierten Kräften zu größeren Stücken zusammengefügt. Das verlangte Sachverstand und Fingerspitzengefühl des Unternehmers, der auch für den Absatz sorgte. Wegen des hohen Zeitaufwandes und der erforderlichen Kunstfertigkeit waren Spitzen seit jeher außerordentlich teuer. Der Entwurf einer Herrenmanschette brachte in Brüssel im Jahre 1750 etwa 2 bis 10 Gulden. Das Fertigprodukt kostete je nach Größe und Feinheit 50 bis 320 Gulden. Ein ganzes Spitzenkleid für die Gemahlin Kaiser Karls VI. wurde 1726 zum Preise von 3.258 Gulden geliefert.


Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum betrug in Brüssel der Jahreslohn eines Dienstboten 28 bis 34 Gulden, die Jahresmiete eines Hauses in guter Lage 400 Gulden, der Kaufpreis eines solchen Hauses etwa 5.400 Gulden. Spitzen wurden von Bürgern als kostbarer Besitz betrachtet, der neben Gemälden, Hausrat, Tafelsilber und Schmuck in Testamenten aufgeführt wurde. Man kann daran leicht ermessen, welch wichtige wirtschaftliche Bedeutung das Gewerbe für Flandern - ebenso für Venedig - besaß.

In der Spitzenindustrie waren Tausende von Arbeitskräften beschäftigt. Es war kein sicheres Brot, da die Arbeit konjunkturabhängig und sozialer Schutz noch unbekannt war.

         

Die Abkehr vom bis dahin üblichen prächtigen Lebensstil brachte einen Einbruch in der Spitzenherstellung. Erst die Änderung des Gesellschaftssystems, die Verbürgerlichung des gesamten Lebensstils und die Mechanisierung im 19. Jh. führten zu einem einschneidenden Wandel.

Das ganze 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch die mit der industriellen Revolution einhergehende Technisierung auf textilem Gebiet und damit durch ein Miteinander und Gegeneinander von Hand und Maschine.

Eine tiefgreifende Erfindung am Jahrhundertanfang (1808) lag in der Mechanisierung der bis dahin nur mit der Hand möglichen Herstellung eines Netzgrundes durch die Konstruktion der sogenannten Tüllmaschine. Ihre Weiterentwicklung erlaubte es bereits im 2. Viertel des Jahrhunderts, Besatzspitzen herzustellen, die handgeklöppelte Spitzen täuschend ähnlich imitierten.

Der schnell und billig herzustellende einfache Maschinentüll wurde unentbehrlicher Bestandteil der Frauenmode als breiter Volant, Schal, Stola, Schleier und vieles andere mehr. Er wurde auf mannigfaltige Weise verwandt: als Untergrund für echte Nadel- und Klöppelmotive (Applikationsspitze) wie für Stickereien der vielfältigsten Art.


         Doch Anfang des 19. Jahrhunderts konnte sich kaum noch jemand leisten, Mechelner Spitzen zu kaufen, denn das Leinengarn erfuhr eine 30% ige Teuerung, so dass Mechelner Spitzen, die für den sehr aufwendig herzustellenden Grund, den Eisgrund, viel Material und auch Arbeitszeit benötigten, fast unerschwinglich wurden. Man sann auf Abhilfe und besann sich auf den Point de Lille-Grund, der mit weniger Material und mit kürzerer Arbeitszeit klöppelbar war. Die zarten Blütenmuster der Mechelner Spitzen wurden sehr schnell als Muster in die Point de Lille-Spitze übernommen, so dass die Spitze mit Blumencharakter erhalten blieb. In ganz Europa wurde diese Spitze modern und man arbeitete sie in den meisten Ländern in vielen Varianten.


         Bisher wurden die meisten Spitzen in Leinengarn gearbeitet, die markt- und modeführend und damit zugleich kultur- und stilgeschichtlich prägend waren.

Nun wurden Chantilly-Spitzen in schwarzer Seide, benannt nach der Stadt Chantilly nördlich von Paris, und Blonde in naturfarbener Seide sehr populär.


         Zum ersten Mal in der Spitzengeschichte wurden sehr viele verschiedene Accessoires für die Kleidung geschaffen: große Dreiecktücher, Vierecktücher, Volants in allen Breiten, Fichus, Mantillas, Coiffures, Handschuhe, Fächer, Strumpfbesätze, Masken, Barben, Berthen, Kragen etc. Durch die zunehmende Rockfülle der Kleider um 1850 kam die Spitze voll zur Geltung. Bei den Nadelspitzen wurde die Brüsseler Point de Gaze neben der Duchesse und der Point d’Angleterre sehr populär.


         Viele Spitzen wurden in historisierendem Stil im 19. Jahrhundert wieder in die Handproduktion aufgenommen.

Brüssel gab der „echten Spitze“ in der 2. Hälfte des Jahrhunderts noch einmal einen Aufschwung, bevor sie vor der neuen Sachlichkeit des neuen Jahrhunderts kapitulieren musste.


         Seit der Weltausstellung 1851 in London - der ersten ihrer Art - wurde in regelmäßigen Abständen der Leistungsstand der Länder in einer Ausstellung vorgestellt. Das 20. Jh. begann mit einer solchen Weltausstellung 1900 in Paris. Dort wurden handgearbeitete Spitzen gezeigt, die sich von den marktführenden Spitzen traditioneller Provenienz abhoben und lebhaftes Interesse hervorriefen. Es war der „Anstoß zum Weg in die Moderne“. Es war eine Spitze als Kunstform, nicht als Produkt einer volkstümlichen Arbeit. Das erste Jahrzehnt gehörte der Kunstspitze Österreichs.


         In der Nachbarschaft der klassischen Spitzenländer Frankreich, Italien und Belgien wurde diese neue Spitze als herausragend angesehen; es war eine durchschlagende künstlerisch-kulturelle Leistung. Die Spitzen waren entwickelt worden im Rahmen eines staatlichen Wirtschafts- und Sozialprogramms zur Hebung der Spitzenindustrie der Monarchie. Der Erfolg basierte auf einem staatlichen Schulsystem: es war der 1879 als gewerbliche Fachschule eingerichtete k.k. Zentralspitzen-Kurs in Wien zur Fortbildung der Spitzenmacherinnen und zur Aus- bzw. Weiterbildung für Lehrerinnen an Spitzenschulen des Landes. Gleichzeitig wurde ein Spitzenzeichenkurs zur Ausbildung von Entwerfern eingerichtet. Damit war eine enge Verbindung zwischen Entwurf und Ausführung gegeben.

Die Schule war ein Spiegelbild der Donaumonarchie mit ihren verschiedenen Nationalitäten, Kulturen und auch unterschiedlichen Spitzenregionen.


Nach und nach zeigt sich in den Spitzen - sowohl Klöppel- als auch Nadelspitzen - die Ornamentik des Jugendstils. Es werden z.B. rund geschlossene Blütenformen bevorzugt, deren lange Stiele, sich lebendig biegend, und die sie umgebenden Flächen abgrenzen und zugleich verbindend durchziehen.


         Diese Entwicklung war auch in Deutschland und nach der Auflösung der Donaumonarchie in der 1919 gegründeten Tschechoslowakei festzustellen

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